TENET (70mm)
Tom Shone, einem der ersten Journalisten, der Christopher Nolan je interviewte, fiel bei ihrer Begegnung eine bemerkenswerte Gepflogenheit des Filmemachers auf. Er schlug die Speisekarte des Restaurants, in dem sie sich trafen, von hinten her auf. Der Regisseur, der wenig Persönliches über sich preis gibt, gestand ihm, Linkshänder zu sein und das auch bei Zeitschriften so zu machen.
Shone konnte nicht umhin, ihn auf die Struktur von „Memento“ hinzuweisen, über den zu sprechen sie sich verabredete hatten. Genau, stimmte Nolan ihm zu, er habe sich gefragt, wie es sei, einen Film rückwärts zu erzählen. Wer weiß, ob er damals die Idee zu „Tenet“ fasste, in dem die Zeit unaufhörlich die Richtung wechselt? Ihre Umkehrung stellt darin die größte Bedrohung der Menschheit dar, die verheerender ist als ihre Auslöschung durch einen Atomkrieg. Nolans namenloser Protagonist (John David Washington) muss in der Gegenwart eine Waffe unschädlich machen, die erst in der Zukunft erfunden wird. Aber wie kämpft man gegen Kontrahenten, die sich in einer anderen Zeitdimension bewegen? Jeder Schlagabtausch ist ein Meisterstück der Choreographie. Kein Zweifel: ein mindfuck, der so rasant erzählt ist, dass einmaliges Sehen nicht genügt.
Before the movie camera came along, human beings had no way of seeing time backwards, slowed down, sped up.
Der Filmtitel, gleichermaßen Palindrom wie Lehrsatz, stellt eine Mixtur aus Quantenphysik, Philosophie und Suspense in Aussicht. Es geht um nichts anderes als die Mechanik der Welt. Nolans Drehbuch ist immens wachsam: Wer in die Zukunft reist, sollte die Gegenwart genau in den Blick fassen. Ganz nebenbei klärt sein Film über zeitgenössische Phänomene auf: Was ist ein „Freeport“, wie sieht das Innere eines Windrades aus? Die bestürzende Aktualität, die der Auftakt des Films – russische Söldner begehen einen Anschlag auf die Kiewer Oper – seither gewonnen hat hat, wird nicht im Sinne des Regisseurs sein. Dass er seiner Zeit stets einen Schritt voraus ist, bewies Nolan mit der beharrlichen Weigerung, seinen Film in Zeiten der Pandemie auf einer Streamingplattform zu starten. Ein solches Epos gehört auf die große Leinwand! So blieb „Tenet“ lange Zeit der einzige Blockbuster, der Corona trotzte. Er brachte wieder Leben in die Kinos.
Text: Gerhard Midding
In Kooperation mit movie-hunters.com
...cinema, finally, has returned.
